Retuschen, Sex,
Renderings
Anselm Wagner
Im ersten Jahrhundert ihrer Existenz war die mittels Buch und Presse vervielfältigte Fotografie ein Hybrid aus Malerei und Lichtbild gewesen. Um die sich im Autotypieverfahren verflüchtigenden Kontraste zu erhalten, mussten Schatten verstärkt, Glanzlichter aufgesetzt und Konturlinien nachgezogen werden. Die Retusche diente aber auch ästhetischen und ideologischen Zwecken: Motive konnten isoliert, unliebsame Gegenstände oder Personen eliminiert, Unregelmäßiges und Unsauberes gereinigt und geschönt werden. Fotografische Druckvorlagen besaßen demnach einen „wahren“ fotografischen Körper und eine „verlogene“ malerische Maske, die im Idealfall unsichtbar war und im Extremfall das fotografische Bild komplett überdeckte. Das perfekt retuschierte Bild musste ein Gemälde sein, das wie eine reine Fotografie wirkte; die Sichtbarkeit von Retuschen hätte den indexikalischen Charakter und damit den Wahrheitsanspruch der Fotografie sofort aus den Angeln gehoben. Die Unsichtbarkeit der Retusche besaß auch ein geschlechtliches Äquivalent: Während die Fotos meist von namentlich bekannten und öffentlich agierenden Männern aufgenommen wurden, oblag das Retuschieren meist den anonym in den Hinterzimmern der Fotoateliers arbeitenden Frauen, die ebenso unsichtbar blieben wie die Spuren ihrer Tätigkeit. Vielleicht war es auch die Nähe zum Schminken, die das Retuschieren zu einer typisch weiblichen Tätigkeit stempelte. Unterstützt wurde dies von einem ebenso modernen wie misogynen Natürlichkeitsdiskurs, der „ungeschminkt“ zum Synonym für „wahrhaftig“ erklärte, inklusive des Generalverdachts von der latenten „Falschheit des Weibes“ und der ebenfalls weiblich konnotierten Kunst der Verführung, welche Frauen scheinbar zur schönfärberischen Lüge der Retusche prädestinierte, während Männer die ungeschminkt wahren, harten Fakten schufen. Allerdings ist die Beurteilung von Retusche und Schminke ambivalent, weil beide dem Ideal der Schönheit dienen: Das retuschierte Foto ist zwar unwahrhaftig, zugleich aber reiner, perfekter und in einem idealistischen Sinne „wahrer“ als das mit allerlei Makeln, Unzulänglichkeiten und Schmutz behaftete, quasi nackte und ungeschminkte Bild.
Klaus Schusters Fotoübermalungen sind „schmutzig“ in mehrfacher Hinsicht des Wortes. Erstens stammen die Vorlagen teilweise aus Porno- und S/M-Magazinen, der traditionellen Sphäre von „Schmutz und Schund“. Zweitens sind diese älteren Datums, sodass sich das aus heutiger Perspektive laienhafte Agieren der Akteure vom artifiziellen und sterilen Posing der heutigen Pornoindustrie deutlich abhebt und insofern auch etwas Altmodisch-Verstaubtes und Schmuddeliges besitzt. Drittens sind Schusters Übermalungen im Gegensatz zur traditionellen Retusche deutlich erkennbar und dienen nicht der Perfektionierung, sondern Deformierung der dargestellten Körper. Nasen verwuchern mit Oberkörpern zu riesigen Rüsseln; aus Köpfen wachsen Arme, Beine oder ganze Gebirge; Frauen bekommen Raubkatzengesichter; Männer verzerrte Clownvisagen; aus Brüsten ragen Stelzen, die anstelle der eliminierten Beine den Körper tragen; ein Pärchen am Strand verwandelt sich in ein dicht gelocktes Vogelpaar; (Scham-)Haar überwuchert die Augen; aus augenförmigen Wunden fließt Blut, kurz: La Belle mutiert zu la Bête.
Trotz dieser offensichtlichen Verfremdungen ist es möglich, bei Schusters Übermalungen von Retuschen zu sprechen. Bei den Schwarzweiß-Fotos sind die Übergänge von Fotografie und Malerei fließend, wächst das Reale übergangslos ins Irreale, das Normale ins Monströse, und es wird nicht nur hinzugefügt, sondern auch eliminiert (sodass z.B. von einem kopulierenden Paar der Mann bis auf sein Bein verschwunden ist). Mittels Retusche vollführt Schuster einen Crossover zwischen allen Kategorien: zwischen Mann und Frau, Mensch und Tier, belebter und unbelebter Materie. Aus der sexuellen Verbindung von Körpern wird ein Zusammenwachsen unterschiedlicher Körperteile einer Person mittels Morphing: Da kann eine reizvoll entblößter Oberschenkel seine Reize buchstäblich so in die Länge ziehen, dass er sich bis zum Gesicht seiner Besitzerin erstreckt und dieses auslöscht. Die gemorphten Gliedmaßen werden so zu Vampiren an ihren eigenen Körpern, an denen sie sich festsaugen und die sie schließlich verschlingen. „Schmutzig“ sind diese Wucherungen, Penetrationen und Verwachsungen durch ihren Verstoß gegen Norm und Regel: „Dirt is matter on the wrong place.“
Daneben gibt es Arbeiten – in der Regel die färbigen –, in denen das Prinzip Maske und Schminke grob übersteigert ist. Dick und grell überlagert die Farbe die Vorlage, macht daraus einen Mummenschanz mit den Mitteln der ebenso brutalen wie kindlichen Energie der Art brut. „Dirty hands“ steht hier für eine Art von Fingermalerei (die auch gerne selbst dicke unförmige Finger malt), welche die Körper sich zwanglos in der Farbe suhlen lässt und mit schreiendem Bodypainting die leiseren Retuschen flankiert.
Neben seine „schmutzigen“ stellt Klaus Schuster die „sauberen“, am Computer generierten und als Lambda Print realisierten Bilder. Strukturell sind Schusters Renderings mit den Retuschen verwandt: Sie sehen aus wie Fotos, sind aber komplett am Bildschirm entworfen (und insofern noch mehr „gemalt“ als die retuschierten Fotografien), und huldigen wie herkömmliche Retuschen dem Kult der sauberen, perfekten Oberfläche. Der Reinigungsprozess ist aber noch weiter fortgeschritten. War in den „schmutzigen“ Arbeiten der menschliche Körper das ausschließliche Thema, fehlt er in den „sauberen“ völlig; der „menschliche Makel“ (d.h. der Makel Mensch) wurde eliminiert. Im „Apartment“ wohnt kein Tourist, im Liegesessel der „Business Class“ sitzt kein Passagier und das „Karussell“ wartet vergeblich auf vergnügungswillige Kunden. Die Verlassenheit und Leere der dargestellten Orte und Objekte besitzt etwas Unheimliches und Gespenstisches, das nicht nur auf dem Fehlen von Personal, sondern auch auf der Machart dieser Bilder beruht. Das CAD-Verfahren zieht unterschiedlich gefärbte und gemusterte Oberflächen über perspektivisch konstruierte Räume und Objekte und bildet so eine synthetische Haut, die eine ähnlich künstliche Anmutung besitzt wie eine Fototapete oder die Kunststoffimitation einer Holz- oder Steinoberfläche. Nur, dass sich darunter nicht das billigere „echte“ Material, sondern buchstäblich nichts befindet. In „Car“ (Shell)“, das nur die Karosserie eines Sportwagens zeigt, ist dieses Prinzip der leeren Hülle auf den Punkt gebracht.
Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich die „sauberen“ Bilder aber als genauso dreckig, vielleicht sogar noch dreckiger als die „schmutzigen“. Schuster nutzt die Imitat- und Laminatwelt seiner Renderings, um aus ihnen jene kleinbürgerliche Atmosphäre zu erzeugen, die aus dem Pragmatismus modern-kalter Funktionalität und dem unbeholfenen Bestreben besteht, diese Funktionalität rustikal zuzukleistern und zu behübschen – und damit die „Reinheit“ der Moderne zu beschmutzen, um groteske Hybridräume zu produzieren. Dem modernen Ideal der Transparenz, Materialgerechtigkeit und Hygiene stellen die Vorstadteigenheime ein ganzes Reservoir an Fenstergittern, Jalousien, Gardinen, Strukturtapeten und Spannteppichen gegenüber, in denen sich sowohl buchstäblich der Schmutz einnistet, als auch der Fetisch des Privaten mittels einer Abfolge von Hüllen, Verkleidungen und (im übertragenen Sinn) Vertuschungen geschützt erscheint und darauf abzielt, jede Transgression und Penetration zu verhindern. Schuster nähert seine gerenderten Innenräume optisch den biederen Interieurs seiner übermalten Porno-Fotos an, sodass sie atmosphärisch aufeinander abfärben, und manchmal, wie in „Pissing“, gibt er einem „sauberen“ Bild einen „schmutzigen“ Titel. Umgekehrt lassen sich seine Retuschen und Übermalungen ebenso als Verkleidungen und Verhüllungen verstehen, welche die Körperöffnungen versiegeln und die Blößen bedecken. Mit dem Effekt, dass all diese Maskierungen und Verheimlichungen das Heim erst so richtig unheimlich machen.